Weiß grad nicht wohin mit mir. Hab kaum abwarten können diesen Eintrag zu schreiben, um den ganzen Ballast loszuwerden. Doch jetzt sitze ich hier und dieses Mal regnet es wirklich. Die Lichter der Fähre schimmern im Wasser und die Tropfen prasseln sanft auf die Wogen vor dem Pier. Im Hintergrund spielt türkische Musik, der Pier ist um 2:16 Uhr gespickt mit Menschen die auf Bänken sitzen und neben mir flucht ein Mann…halt…neben mir hat ein Mann geflucht, der seine Gattin angestiftet hat, es ihm in schärferem Tonfall nachzutun. Untermalt wird die Szenerie vom vorbeiziehendem Schokoladengeruch eines Riegels und gelegentlichen Blitzsalven. Die Wolken über Istanbul glühen rot und sind der Grund warum ich gerade mit dem Gedanken hadere, dass vielleicht doch alles so sein soll, wie es kommt.

Kurz zuvor bin ich von Kabataş nach Beşiktaş gesprintet, so weit mich meine Beine getragen haben. Wenn das Atmen schwer viel und die Oberschenkel gebrannt haben, habe ich mit Blick am Himmel durchgeatmet, nur um erneut los zu sprinten, sobald mich der Stress wieder eingeholt hat. Denn eine Reihe schlechter Entscheidungen haben mich dazu geführt den Berg vom Taksim Platz nach Kabataş hinunter zu rennen. Entscheidungen die unter Stress getroffen wurden. Entscheidungen, die aufgrund fehlender Interventionen, schlecht gewählt waren. Entscheidungen die ich zu verantworten habe, deren Konsequenzen aber nicht nur mich betreffen.

Sobald ich von gender balance gehört habe, hatte ich schon keinen Bock mehr. Frage mich wo’s reingeht und wie das läuft. Wage Antworten, unangenehme Aufgabe. Frauen ansprechen die mich mit in den Club nehmen sollen. Eigentlich schon wirklich keinen Bock mehr, aber würde gerne meine Freunde sehen, also überwinde ich mich. Zwei Körbe später frage ich mich, neben der Frage, was ich hier mache, ob ich mich strategisch eventuell schlecht positioniert habe. Also wandere ich und beobachte. Dabei werde ich von den Türstehern beobachtet. Gar kein Bock, aber ein letzten Versuch gebe ich dem ganzen noch. Spreche eine Dreier-Gruppe an, die noch einen Platz für mich hätte und werde super freundlich mit meiner Bitte empfangen. Wir machen uns auf den Weg zum Bouncer und jetzt kommt die anfängliche Frage wieder ins Spiel: Wo geht’s rein und wie läuft es ab. Rein geht’s an der Treppe, wie es abläuft ist aber, dass man vor dem Gebäude den Stempel bekommt. Die freundliche Gruppe flunkert den Türsteher sogar für mich an (ich küsse eure Herzen, ich hoffe ihr hattet einen goldenen Abend), aber ohne Stempel hilft alles nichts. Ich ziehe geschlagen davon und ärgere mich, wie ich die Situation so schlecht einschätzen konnte. Ich schäme mich, dass ich die freundlichen Fremden in eine beschissene Situation gebracht habe und kann meine eigene Inkompetenz kaum fassen. Ja, ich hatte kein Bock, ja, ich war super angespannt und ja, weder die Fremden und besonders meine Freunde waren keine Hilfe dabei, die Situation zu korrigieren. Trotzdem bin ich jetzt draußen, habe meine Zeit verschwendet und mich blamiert. Für etwas das ich von Anfang an gar nicht wollte. Ich krieg die Krise und schicke zwischendurch noch mit einem Lächeln meinen Freunden eine Sprachnachricht, damit die kein schlechtes Gewissen haben, während mich die Emotionen durchdringen und ich die Krise kriege. Während ich, wie bereits beiläufig erwähnt, die Krise kriege, mache ich mich auf den Weg zur Fähre, indem ich den Berg vom Taksim Platz nach Kabataş hinunter walze. Die Lichter der Stadt erhellen die Wolken und alle paar Minuten züngeln Blitze über den Nachthimmel. Ich renne wie getrieben Richtung Fährstation in dem Bestreben meine Spannungen zu entladen, während mich Donnergrollen auf meiner Flucht begleitet. Rastlos und mit Blick auf die Uhr erscheint die Fähre um 1:45Uhr in Reichweite. Kaum angekommen, bietet sich mir ein Geflecht aus Blitzen dar, dass sich gestochen scharf hinter dem Bosphorus ausbreitet.

Mittlerweile ist es 3:25Uhr und ich bahne mir den Weg Richtung vorderes Deck der Fähre. Hinweg durch die Bänke auf denen einige Männer zusammengekauert schlafen, während ihre Freunde über sie wachen. Vorbei an Paaren, die sich in den Armen liegen und müden Augenpaaren, die mich neugierig begutachten. Weiter durch die Bänke bis ich den Wind und den Regen spüren kann und sich ein Mosaik aus Licht vor mir auftut.

Ich kann noch immer nicht ganz fassen, was ich hier erleben darf. Seit mehreren Stunden entfaltet sich ein Gewitter in vollster Pracht und umschließt Istanbul mit seinen Blitzen und Donnerhallen. Ich wohne dem Spektakel in der mittlerweile dritten Fahrt in Folge bei und kann mich nicht satt sehen. Etwa alle dreißig Sekunden bahnt sich ein Zweig den Weg Richtung Horizont und der Bosphorus wird für einen Moment erleuchtet. Und doch gleitet die Fähre bei leichtem Nieselregen durch eine stille Nacht. Das Unwetter nur eine Kulisse, die Lichtflut bereits verschwunden, kaum hochgesehen. Ein absurde und wunderschöne Darbietung.

Das Horn der Fähre leitet das Ende ein und was bleibt, ist schwer einzuordnen. Es hat sich alles doch irgendwie gefügt und trotzdem kann ich mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, alles zu re-framen.
Wäre ich reingelassen worden, wäre ich gar nicht erst zur Fähre gegangen und wäre ich nicht so eklatant gescheitert, dann wäre ich nicht zur Fähre gerannt und hätte sie verpasst.
Das stimmt schon und es ist ein Trost, den ich mit offenen Armen empfange. Der Stress wiegt trotzdem noch schwer und mittlerweile liege ich um 4:26Uhr im Bett. Bin irgendwas zwischen dankbar, ungläubig und erschöpft und versuche wohl besser mal zu schlafen.